„Nicht den Bock zum Gärtner machen!“
Online-Petition gegen die religiöse Fundierung von Bildung und Erziehung


Anlässlich der Vorstellung des „Bündnisses für Erziehung“ durch Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen startet die Giordano Bruno Stiftung die nachfolgende Petition, die sich in aller Entschiedenheit gegen die religiöse Fundierung von Bildung und Erziehung wendet. Der Stiftungsvorstand hält diesen Schritt für notwendig, weil in der medialen Berichterstattung über die Initiative der Familienministerin entscheidende Argumente bislang sträflichst vernachlässigt wurden. Zwar haben einige kritische Kommentare zu Recht angemerkt, dass das „Bündnis für Erziehung“ von seiner ideologischen Anlage her dem Verfassungsprinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates widerspricht, der eigentliche Skandal dieses konservativen Vorstoßes wurde aber kaum thematisiert. Von der Leyens Erklärungen vor der Presse stellen nämlich nicht nur eine Beleidigung der aufklärerischen Vernunft dar, welche die fundamentalen Menschenrechte in einem Jahrhunderte währenden Emanzipationskampf gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen erkämpfen musste, sondern auch eine Verhöhnung der Opfer christlicher (Heim-)Erziehung.

Während im katholischen Irland derzeit eine Milliarde Euro ausgeschüttet werden, um die misshandelten und missbrauchten Zöglinge christlicher Erziehungsanstalten für das erlittene Leid zu entschädigen, halten sich die christlichen Kirchen im weitgehend säkularisierten Deutschland trotz identischer pädagogischer Verbrechen (!) nicht nur schadlos, sie werden sogar mit einer Spitzenposition in einem angeblich zeitgemäßen „Bündnis für Erziehung“ belohnt. Wer diese und andere Fakten zur Kenntnis nimmt, muss den gedanklichen Entgleisungen der deutschen Familienministerin in schärfster Form entgegentreten (vgl. hierzu die umfassende Analyse von GBS-Vorstandssprecher Dr. Michael Schmidt-Salomon, aus der der Text der vorliegenden Petition „herausdestilliert“ wurde. ).

Unbestritten ist – hier darf man der Familienministerin ausnahmsweise zustimmen –, dass heute eine breite gesellschaftliche Debatte zu den fundamentalen Werten des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft erforderlich ist. In diesem Zusammenhang sollten allerdings die folgenden zehn Aspekte berücksichtigt werden:

1. In der öffentlichen Diskussion müssen notwendigerweise weltliche Kriterien gelten, nämlich die humanistische Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Menschen sowie die aufklärerische Orientierung an den Idealen der intellektuellen Redlichkeit. Wenn Klein-Erna mit Segen des Staates von Vertretern der katholischen Kirche, Klein-Mehmet von Muslimen, Klein-Philipp von Zeugen Jehovas etc. fürs Leben geschult werden, so entsteht darüber keine weltanschauliche Vielfalt, sondern bloß potenzierte Einfalt. Mit der bisher gewählten Strategie, die Vermittlung und Diskussion von Werten und Weltanschauungen ausgerechnet den religiösen Gemeinschaften zu überlassen, hat der Staat den Bock zum Gärtner gemacht. Dass unter dieser Voraussetzung das zarte Pflänzchen einer offenen Gesellschaft nicht gedeihen kann, sollte niemanden verwundern.

2. Ein „Bündnis für Erziehung“ ist nur dann sinnvoll, wenn es eng mit einem breit angelegten „Bündnis für Bildung“ verzahnt ist. Wohlgemerkt: Die gegenwärtige kulturelle Misslage ist keineswegs dadurch geprägt, dass die Menschen nicht zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden wüssten. Im Gegenteil. Der sich zuspitzende Kampf der Kulturen erhält seine Brisanz gerade dadurch, dass hier rigide Moralsysteme, die allesamt nach einem einfachen Schwarz-Weißmuster von „Gut und Böse“ gestrickt sind, unvermittelt aufeinander treffen. Was fehlt, ist das umfassende Wissen um die Lebenslagen, Vorstellungen, Perspektiven der „Anderen“ sowie – vor allem! – eine kritische, faktenbasierte Aufarbeitung der eigenen Denktradition.

3. Wir brauchen auf pädagogischem Terrain weniger den neokonservativ geforderten „Mut zur Erziehung“, sondern eine engagierte, weitreichende Bildungsoffensive, die endlich all das entschieden umsetzt, was an fruchtbaren Erkenntnissen im Bereich der Didaktik, der Lern- und Motivationspsychologie und der modernen Hirnforschung seit geraumer Zeit vorliegt. Klar ist, dass die Orte des Lernens nicht weiter Orte des Vollstopfens mit Inhalten sein dürfen, die den Lernenden existentiell nichts bedeuten. Die bisherige Praxis, Lernende auf das „Erbrechen unverdauter geistiger Nahrung zum jeweiligen Prüfungstermin“ hinzukonditionieren, schafft nur totes Schein-Wissen (im doppelten Sinne des Wortes), das meist schon kurze Zeit nach der finalen Bildungs-Transaktion (dem Austausch von entfremdetem Wissen gegen Zensuren) vergessen ist. Was heute erforderlich ist – vom Kindergarten bis zur Universität – sind „Abenteuerspielplätze des Wissens“, Orte, die die Freude am Lernen wecken, die die Kinder individuell nach ihren jeweils vorhandenen Talenten fördern, die das existentiell Sinnvolle mit dem Sinnlichen verbinden, die die Kreativität, den Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen, wirklich herausfordern. Würden die bahnbrechenden Erkenntnisse beispielsweise der Hirnforschung in entsprechende pädagogische Konzepte umgesetzt, könnte die intellektuelle und emotionale Entwicklung der Kinder bereits im Kindergarten auf spielerische Weise gefördert werden. Wer seine Empathiefähigkeit von Kindesbeinen auf spielerische Art und Weise trainiert hat, braucht später keine religiösen Umerziehungsprogramme zu den angeblich so bedeutsamen „guten alten Werten“ (wann waren diese denn für wen „gut“?!), damit er sozial verantwortlich handeln kann. Dies wären Projekte, die unsere Gesellschaft wirklich voranbringen würden. Auf die Inanspruchnahme archaischer Mythen können wir in diesem Zusammenhang getrost verzichten.

4. Eine zeitgemäße pädagogische Initiative müsste in ethischer Hinsicht auf die Vermittlung von „Fairnesskriterien“ sowie in intellektueller Hinsicht auf die Vermittlung kritischer Mündigkeit abzielen. Die bisherige Konzentration der Initiative „Bündnis für Erziehung“ auf bloße „Sekundärtugenden“ zeigt, dass sich die vollmundig angekündigte Initiative in pädagogischer Perspektive auf Stammtischniveau bewegt. „Respekt“ etwa muss man autoritär erzogenen türkischen Jugendlichen nun ganz gewiss nicht beibringen. Es sind gerade solche „Tugenden“ wie „Gehorsam“, „Ehre“ und „Respekt“ die manche Migrantenkinder dazu bringen, sich auf „Zwangsehen“ und „Blutfehden“ einzulassen oder gar „Ehrenmorde“ zu begehen. „Respekt“ und „Toleranz“ sind solange hohle Begriffe, solange nicht angegeben wird, was aus welchem Grund denn nun zu respektieren oder tolerieren ist und was eben nicht (beispielsweise „Ehrenmorde“). Dies verlangt umfassende Bildung, kritisch reflektiertes Wissen, eine Beschäftigung mit den realen Tatsachen und eine konsequente Aufhebung ideologischer Denkmuster – kurzum all das, was die Familienministerin selbst in ihren Stellungnahmen vermissen ließ.

5. „Weltanschaulich neutral“ kann und darf sich der Staat nur dort verhalten, wo weder die humanistischen, auf den Menschenrechten beruhenden ethischen Prinzipien des Grundgesetzes noch die Seriosität des Bildungsauftrags (Stichwort: Kreationismus) auf dem Spiel stehen. Um überhaupt in den Genuss staatlicher Förderung kommen zu können, müssten die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften – vor allem wenn sie im pädagogischen Bereich tätig sind – zunächst ihre „Hausaufgaben“ erledigen, d.h. aus ihren Weltbildern all jene Elemente entfernen, die entweder mit den Kriterien einer humanen Ethik oder aber mit hinreichend gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen kollidieren.

6. Eine solche kritische Aufarbeitung des eigenen Denkens und der eigenen Geschichte muss im Falle der Kirchen angesichts der dokumentierten Menschenrechtsverletzungen in christlichen Erziehungsanstalten nicht nur zu einer öffentlichen Entschuldigung gegenüber den Opfern christlicher Heimerziehung führen. Um in einem (Werte- !) „Bündnis für Erziehung“ als gleichberechtigte Partner teilnehmen zu können, ist es unabdingbar, dass sich die Kirchen ihrer ethischen Verantwortung stellen und die christlich betreuten „Heiminsassen“ für das ihnen zugefügte Leid angemessen entschädigen. Legt man in diesem Zusammenhang den Maßstab Irlands zugrunde, so müsste von den Kirchen für den noch zu bildenden „Deutschen Entschädigungsfonds für Heimbewohner“ ein Beitrag in zweifacher Milliardenhöhe aufgebracht werden. Anders als in Irland, wo der Staat die verhältnismäßig arme Kirche unterstützte, kann und sollte dieser Betrag hierzulande von den direkt Verantwortlichen, den beiden christlichen Großkirchen, alleine aufgebracht werden. Immerhin haben diese – nicht zuletzt aufgrund staatlicher Privilegierung – mittlerweile ein kapitalisierbares Vermögen von jeweils mehreren hundert Milliarden Euro zusammengerafft.

7. Wenn die evangelische Landesbischöfin Käßmann auf der Pressekonferenz zum Start der Initiative „Bündnis für Erziehung“ formuliert, „wo evangelisch drauf steht, sollte auch evangelisch drin sein“, so ist dem nichts entgegenzusetzen – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Institutionen, die unter evangelischer Flagge segeln, auch tatsächlich evangelisch finanziert werden. In Wirklichkeit aber wird zur Zeit keine der evangelisch oder katholisch etikettierten Sozial- oder Bildungseinrichtungen von diesen finanziell getragen. Während kirchliche Krankenhäuser, Altenheime, Sozialstationen etc. zu hundert Prozent durch Staat und Gesellschaft finanziert werden, tragen die Kirchen für konfessionelle Kindergärten oder Kindertagesstätten nur einen kleinen (und dank ihres Verhandlungsgeschicks immer kleiner werdenden, mancherorts bereits völlig verschwundenen) Anteil der Kosten. Fest steht: Die unkritische und über weite Strecken verfassungswidrige Subventionierung der Kirchen incl. ihrer „Werke“, die den Staat insgesamt mehr kostet, als sie einbringt, muss ein baldiges Ende haben. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Kirchenprivilegien in der Regel auf Verträge aus vor- bzw. undemokratischen Zeiten zurückgehen. Die katholische Kirche etwa sicherte sich einen Teil ihrer Privilegien im „Dritten Reich“, als sie mit Hitler das sog. „Reichskonkordat“ abschloss, wofür sie diesem über die katholische Zentrumspartei die notwendigen Stimmen zur Durchsetzung des sog. „Ermächtigungsgesetzes“, der rechtlichen Legitimation der Nazidiktatur, besorgte.

8. Die konsequente kritische Infragestellung der eigenen Denkposition, die als unbedingte Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilnahme an einem „Bündnis für Erziehung und Bildung“ verstanden werden muss, muss selbstverständlich für alle Weltanschauungsgemeinschaften gelten – keineswegs nur für jene, die sich selbst als „religiös“ definieren. Auch die „aufklärerischen Alternativen zur Religion“ können sich schnell zu „Ersatzreligionen“ entwickeln, die dieselben dogmatischen Eigenschaften besitzen, die wir an den bestehenden Offenbarungsreligionen zu Recht kritisieren. (Die Geschichte des Marxismus mag in diesem Zusammenhang als warnendes Beispiel gelten!) Als wirksames Gegengift gegen eine solche Ideologisierung der Aufklärung hilft allein ein konsequenter Kritizismus. Nur durch das stete Anwenden des „Prinzips der kritischen Prüfung“ werden wir in die Lage versetzt, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen. Diese kritische Grundhaltung gilt es allen jungen Menschen zu vermitteln. Dies verlangt aber wiederum, dass die Erzieher, Lehrer, Eltern etc. selbst in der Lage sind, den eigenen Verstand auf kritische Weise zu gebrauchen. Das allerdings entspricht kaum der Wirklichkeit. Damit zeigt sich, dass ein echtes, um Erfolg bemühtes „Bündnis für Bildung und Erziehung“ nicht nur Kinder und Jugendliche erreichen, sondern auch die Erwachsenen als Klientel mit einbeziehen muss.

9. In den politischen Auseinandersetzungen unserer Tage darf die zahlenmäßig stärkste gesellschaftliche Gruppe, die Konfessionslosen, die bei Beibehaltung des seit Jahren stabilen Trends der Entkirchlichung in absehbarer Zeit die Mehrheit der deutschen Bevölkerung stellen werden, nicht mehr übergangen werden, wie dies bis heute noch üblich ist. Das Vorurteil, diese Gruppe sei in sich viel zu heterogen, um in der politischen Debatte berücksichtigt zu werden, ist mittlerweile empirisch hinreichend entkräftet. In Wirklichkeit ist diese Gruppe der Konfessionslosen in allen wichtigen weltanschaulichen Items in sich homogener als die Gruppe der evangelischen oder die Gruppe der katholischen Kirchenmitglieder. Mehr noch: Betrachtet man die Gesamtbevölkerung unabhängig von nominellen Konfessionszugehörigkeiten, so zeigt sich, dass in Deutschland bereits heute eine stabile Mehrheit mit humanistisch-aufklärerischem Profil existiert. Diese Mehrheit vertritt in wichtigen ethischen Fragen weit progressivere Einstellungen als die von kirchlichen Einflussnahmen immer noch allzu stark dominierte Politik. Die sich hierdurch bietenden Chancen zum Ausbau einer freieren, solidarischeren Gesellschaft sollten konsequent genutzt werden.

10. Es sollte unbedingt verhindert werden, dass gesellschaftliche Krisenphänomene, die nicht zuletzt auf ökonomischen Fehlentwicklungen beruhen, mithilfe religiöser Indoktrinationsversuche kaschiert werden. Diese Strategie hat noch nie zu einer Verbesserung, sondern stets zu einer Verschlechterung der menschlichen Lebensverhältnisse geführt. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass das Projekt der Aufklärung weder vollendet ist noch dass die kulturellen Errungenschaften der Moderne, die uns in unseren Breitengraden allzu selbstverständlich geworden sind, nachhaltig gesichert sind. In dieser Situation sind wir alle aufgerufen, endlich Klartext zu reden, Irrtümer als Irrtümer und ethische Verfehlungen als ethische Verfehlungen zu kennzeichnen – auch wenn dies in den intellektuell weichgespülten, selten an die Wurzeln der Probleme vorstoßenden Debatten unserer Zeit als „unschicklich“ erscheinen mag. Halten wir fest: Wer aus Opportunitätsgründen Unsinn zu Sinn, Leid zur Freude und Verbrechen zu Heldentaten verklärt, der liefert damit weder Grundlagen für eine zeitgemäße Erziehungs- und Bildungsreform noch für eine Weiterentwicklung des Projekts einer offenen Gesellschaft. Wir sollten uns davor hüten, die Errungenschaften der Moderne durch Bequemlichkeit, Feigheit oder blankem Opportunismus leichtfertig zu verspielen…

Hier können Sie die vorliegende Petition unterschreiben:
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Zusätzliche Hinweise:

Hier finden Sie die Pressemitteilung zu der vorliegenden Petition:
http://www.presseportal.de/story.htx?nr=814383&firmaid=61025

Zur Vertiefung der Thematik dieser Petition empfehlen wir die Lektüre des von Michael Schmidt-Salomon verfassten Artikels „Von der Leyens gedankliche Entgleisungen... Plädoyer für eine zeitgemäße Bildungs- und Erziehungsoffensive“, aus dem der Text der vorliegenden Petition "herausdestilliert" wurde.

Ergänzend weisen wir auf das im Auftrag der Giordano Bruno Stiftung geschriebene „Manifest des evolutionären Humanismus“ (Alibri Verlag 2005, 1. Auflage, und 2006, 2. erweiterte Auflage), das u.a. die Unvereinbarkeit von Wissenschaft und traditioneller Religion sowie die Notwendigkeit einer säkular gefassten Ethik philosophisch begründet.

Hier können Sie über die Petition bzw. den weiterführenden Artikel von Michael Schmidt-Salomon diskutieren:
GBS-Diskussionsforum im "Freigeisterhaus"
(Hinweis: Bitte beachten Sie: Um mitdiskutieren zu können, müssen Sie sich vorher registriert haben. Hinweise hierzu finden Sie im Thread "Willkommen im GBS-Forum!")

Der besondere Link: Auch Künstler haben sich mit der Familienministerin und ihrem Kreuzzug für eine christliche Erziehung beschäftigt. Die "religionsfreie Zone" präsentiert die Aktion: Die Heilige Ursel - Unbekannte Meisterwerke der Kunstgeschichte

Impressum:
Dr. Michael Schmidt-Salomon (V.i.S.d.P)
Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung
Tel: 06505/99053
Mobil: 0174/9809516
www.giordano-bruno-stiftung.de