Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

„Von der Leyens gedankliche Entgleisungen...“
Plädoyer für eine zeitgemäße Bildungs- und Erziehungsoffensive


Anlässlich der Vorstellung des „Bündnisses für Erziehung“ durch Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen haben einige kritische Kommentare zu Recht angemerkt, dass das „Bündnis für Erziehung“ von seiner ideologischen Anlage her dem Verfassungsprinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates widerspricht. Leider aber wurde der eigentliche Skandal dieses konservativen Vorstoßes kaum thematisiert. Von der Leyens Erklärungen vor der Presse stellen nämlich nicht nur eine Beleidigung der aufklärerischen Vernunft dar, sondern auch eine Verhöhnung der Opfer christlicher (Heim-) Erziehung.

Während im katholischen Irland derzeit eine Milliarde Euro ausgeschüttet werden, um die misshandelten und missbrauchten Zöglinge christlicher Erziehungsanstalten für das erlittene Leid zu entschädigen, halten sich die christlichen Kirchen im weitgehend säkularisierten Deutschland trotz identischer pädagogischer Verbrechen (!) nicht nur schadlos, sie werden sogar mit einer Spitzenposition in einem angeblich zeitgemäßen „Bündnis für Erziehung“ belohnt. Wer diese und andere Fakten zur Kenntnis nimmt, muss den gedanklichen Entgleisungen der deutschen Familienministerin in schärfster Form entgegentreten.


Die erste Beleidigung der Vernunft: Die Legende von den „christlichen Werten“

Als Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen am 20.4.2006 gemeinsam mit Kardinal Sterzinsky und der evangelischen Landesbischöfin Margot Käßmann den Start der Initiative „Bündnis für Erziehung“ verkündete, begründete sie die enge Verzahnung der Initiative mit den beiden christlichen Großkirchen damit, dass „auf christlichen Werten“ angeblich „die gesamte hiesige Kultur“ basiere. In einer pluralen Gesellschaft müsse „zunächst die eigene Position klar sein“, erst dann könne „man sich gegenüber anderen Werten öffnen“.

Letzteres ist nicht einmal so falsch, doch leider muss man mit guten Gründen bezweifeln, dass der deutschen Familienministerin „die eigene Position“ tatsächlich besonders „klar“ ist. Ganz offensichtlich nämlich hat sie in der Schule nicht sonderlich gut aufgepasst oder aber sie ist – wie man durchaus befürchten muss – in den Genuss eines einseitig manipulativen, nämlich christlich parteiischen, allen wissenschaftlichen Grundlagen entbehrenden Geschichtsunterrichts gekommen. Auf andere Weise lässt sich kaum erklären, dass von der Leyen so vollkommen die Tatsache ignorierte, dass die fundamentalen Werte, die für moderne Rechtstaaten konstitutiv sind - die Menschenrechte, die Freiheit der Meinungsäußerung, der Wissenschaft, der Kunst, die demokratische Gewaltenteilung etc. –, keineswegs dem Christentum entstammten, sondern, dass diese in einem erbitterten, Jahrhunderte währenden Widerstandskampf gegen die Machtansprüche dieser Religion erkämpft werden mussten.

Wie stark der Widerwille gegen das neuzeitliche, freie, humane Denken in christlichen Kreisen ausgeprägt war, zeigt kaum ein Dokument so deutlich wie der berühmt-berüchtigte Syllabus von Pius IX. aus dem Jahr 1864. Der im „Heiligen Jahr“ 2000 von Johannes Paul II. selig gesprochene Pontifex verdammte in dieser Sammlung vermeintlicher „Irrtümer“ nahezu alle Errungenschaften der Moderne: Rationalismus, Naturalismus, Liberalismus, Demokratie, Trennung von Staat und Kirche. Nicht minder scharf verurteilten der Lehrentscheid des 1. Vatikanischen Konzils von 1869-1870 sowie der sog. „Antimodernisteneid“ (Dekret des Hl. Offiziums „Lamentabili“) aus dem Jahr 1907 derartige „Irrtümer der Moderne“. Erst 1961 (!) konnte sich Papst Johannes XXIII. in der Enzyklika „Mater et Magistra“ zu einer halbgaren Anerkennung der Menschenrechte durchringen. Allerdings geschah dies nicht aus religiösen Gründen, sondern als Reaktion auf den gesellschaftlichen Druck der bereits stark fortgeschrittenen Säkularisierung. Je genauer man hinschaut, desto klarer zeigt sich, dass die Idee der Menschenrechte auch heute noch mit einem Ernst gemeinten christlichen Glauben nicht zu vereinbaren ist. Deshalb ist es auch nur konsequent, dass der Vatikan bis heute die Europäische Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert hat.

Im evangelischen Lager sah (und sieht) die Situation kaum besser aus. Für einen halbwegs aufgeklärt denkenden Protestanten dürfte es kaum eine peinlichere Erfahrung geben als die Lektüre der Texte Martin Luthers. Auch wenn man die Bedeutung Luthers für die Entwicklung einer lebendigen deutschen Schriftsprache bzw. seine Leistungen in Bezug auf die Überwindung römisch-katholischer Machtansprüche nicht unterschätzen darf, so war der Reformator doch keineswegs ein Vorreiter der Emanzipation. Im Gegenteil! Im blinden Vertrauen auf die ewige Wahrheit der Bibel forderte Luther u. a. die Ermordung sog. „Hexen“ (von deren Teufelsbesessenheit er, der sich zeitlebens von dem „bösen Feind“ verfolgt fühlte, überzeugt war ), die vollständige Vertreibung der Juden (kein Haus dieser vermeintlichen Gottesmörder sollte nach Luthers Überzeugung stehen bleiben! ) sowie die gnadenlose Eliminierung der aufständischen Bauern (denen er ebenfalls vorwarf, vom Teufel besessen zu sein, weil sich diese im scharfen Widerspruch zu den Geboten der „Heiligen Schrift“ gegen die angeblich von Gott eingesetzten weltlichen Herrscher aufgelehnt hatten ).

Es ist nicht verwunderlich, dass Luthers Nachfolger meist ins gleiche Horn stießen – nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart. So sind es vor allem evangelische Christen, die gegen die Evolutionstheorie und den Sexualkundeunterricht anrennen und für die Wiedereinführung der Prügelstrafe in der Schule plädieren (entsprechend dem alttestamentarischen Buch der Sprichwörter: „Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht“ bzw. dem neutestamentarischen Brief an die Hebräer: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet. Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt?“). Dass die von Bundesfamilienministerin von der Leyen für das „Bündnis für Erziehung“ herangezogene evangelische Landesbischöfin Käßmann und wohl auch der katholische Kirchenfürst Sterzinsky eine solche christliche „Zucht- und Ordnung-Pädagogik“ kaum befürworten dürften, ist keineswegs ein Beleg für die Humanität „christlicher Werte“, es beweist nur, wie weit der Zähmungsprozess der christlichen Religion durch die Aufklärung in Europa bereits vorangeschritten ist. Die Werte, die von der Leyen als „christliche“ begreift, sind in Wirklichkeit Werte der Aufklärung, Werte, die dem Christentum in einem höchst opferreichen – man denke nur an die blutigen Hexen- und Ketzerverfolgungen! –, doch letztlich erfolgreichen Emanzipationskampf abgetrotzt werden konnten.

Die zweite Beleidigung der Vernunft: Die Legende von den fortschrittlichen „Zehn Geboten“

Auf der nach oben offenen Skala weltanschaulicher Beschränktheit sammelte Familienministerin von der Leyen höchste Punktwerte, als sie zum Besten gab, dass „die Artikel des Grundgesetzes (…) im Prinzip die zehn Gebote zusammen[fassen]“ würden. Allem Anschein nach hat sich die Bundesministerin auch im Religionsunterricht nicht gerade mit kritischer Aufmerksamkeit beteiligt. Ansonsten hätte sie wissen müssen, dass gleich am Anfang der „Zehn Gebote“ eine der barbarischsten, unethischsten Verhaltensrichtlinien der Geschichte steht: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben […] Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation.“ Müssen wir also Religionszwang, Blutfehde und Sippenhaft als Grundlage des Grundgesetzes begreifen? Die Familienministerin muss schon eine höchst seltsame Version des deutschen Verfassungstextes besitzen…

Dass die „Zehn Gebote“ bei vielen Menschen immer noch als ernst zu nehmende ethische Maßstäbe gelten, lässt sich nur als Ausdruck einer katastrophalen Traditionsblindheit und Fehlbildung erklären. Wer weiß schon, dass im 10. Gebot Frauen mit Sklaven (sic!), Tieren und sonstigen „männlichen Besitztümern“ in eine Reihe gestellt werden? Oder dass Jahwe wenige Verse nach „Du sollst nicht morden“, folgende präzisierende Anweisung gibt? „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen. Jeder, der mit einem Tier verkehrt, soll mit dem Tod bestraft werden. Wer einer Gottheit außer Jahwe Schlachtopfer darbringt, an dem soll die Vernichtungsweihe vollstreckt werden.“

Bei einer genaueren Betrachtung erweisen sich die „Zehn Gebote“, auch wenn es die Familienministerin schmerzen wird, keineswegs als besonderer Höhepunkt der menschlichen Kulturentwicklung. Sie lassen sich aus heutiger Perspektive vielmehr mit drei eher wenig schmeichelhaften Begriffen charakterisieren, nämlich als „trivial“, „unzulässig vereinfachend“ sowie „offen reaktionär“.

Trivial sind die Zehn Gebote, insofern sie über weite Teile selbstverständliche Verhaltensrichtlinien benennen, die für jede funktionierende soziale Gruppen gelten, auch für Steinzeitfamilien, SA-Truppen und heutige Hooligans. Ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen muss für die eigene Gruppe gewährleistet sein, damit sie überhaupt existieren kann. Lüge, Betrug, Mord etc. müssen innerhalb der eigenen Gruppe tabuisiert sein. Gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen darf man diese Verhaltensweisen aber sehr wohl zeigen, mitunter wird man hierzu sogar regelrecht aufgefordert, siehe den mehrfach geäußerten göttlichen Befehl zur Ausrottung anderer Völker und der aus der eigenen Gemeinschaft ausgeschlossenen „Götzendiener“ im Alten Testament, Hitlers unverblümten Aufruf zur „Vernichtung der jüdischen Rasse“ oder (weit harmloser) die brutalen Auseinandersetzungen zwischen den Schlägerbanden rivalisierender Fußballvereine.

Unzulässig vereinfachend sind die Zehn Gebote, weil ethisches Handeln in einer komplexen Welt nicht bedeuten kann, blind irgendwelchen Geboten zu folgen, sondern in der jeweiligen Situation abzuwägen, mit welchen positiven und negativen Konsequenzen eine Entscheidung verbunden wäre. Beispiel: Wer in der Nazidiktatur nicht log, sondern der Gestapo treuherzig den Aufenthaltsort jüdischer Familien verriet, verhielt sich im höchsten Maße unethisch – im Gegensatz zu jenen, die Hitler durch Attentate beseitigen wollten, um Millionen von Menschenleben zu retten.

Offen reaktionär wirken die Zehn Gebote insofern, als dass sie – obwohl sie eigentlich nur der historische Ausdruck eines im Laufe der kulturellen Evolution glücklicherweise überwundenen, patriarchal-autoritären Herrschaftssystems sind – auch heute noch von Gläubigen als verbindliche Regelwerke betrachtet werden. Dies hat zur Folge, dass inhumane, kulturelle Normen der Vergangenheit (Sklavenherrschaft, Religionszwang, Blutfehden, Sippenhaft, Frauenunterdrückung, Homophobie etc.) mit dem Schein des Heiligen, Unantastbaren, in die Gegenwart transportiert werden.

Klar ist: Wer auch nur halbwegs redlich mit diesen „heiligen Texten“ umgeht, der weiß, dass sie mit Humanität, mit der Gewährung von Menschenrechten, Demokratie, Meinungsfreiheit etc., herzlich wenig zu tun haben. Würden sich die heutigen „Christen“ nicht kontinuierlich selbst belügen, müssten sie zugeben, dass sämtliche religiösen Quellentexte weit unter dem ethischen Mindeststandard jeder halbwegs zivilisierten Gesellschaft stehen. Dies gilt nicht nur für die in diesen Texten enthaltenen göttlichen Gebote (beispielsweise die Forderung nach der Todesstrafe für homosexuelle Handlungen oder Glaubensabfall in den Quellentexten des Judentums, Christentums und des Islam), sondern auch für das dort angeblich dokumentierte Verhalten der vermeintlich obersten, moralischen Autorität (Gott).
Als ethisches Vorbild für unsere Zeit taugt der Gott der Juden, Christen und Muslime gewiss nicht. Wäre die Bibel tatsächlich „Gottes Wort“, müsste man den in ihr wirkenden göttlichen Tyrannen gleich mehrfach wegen kolossaler Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen! Kein noch so verkommenes Subjekt unserer Spezies hat jemals derartig weitreichende Verbrechen begangen, wie sie vom Gott der Bibel berichtet werden. Man denke nur an die völlige Auslöschung von Sodom und Gomorra, den weltweiten Genozid an Menschen und Tieren im Zuge der sog. „Sintflut“ oder aber an die für Christen und Muslime verbindliche Androhung ewiger Höllenqual, gegen die jede irdische und damit endliche Strafmaßnahme verblassen muss.


Die Verhöhnung der Opfer: Der verdrängte Skandal der christlichen Erziehung

Wie die Menschenrechte im Allgemeinen, so mussten auch die Prinzipien einer halbwegs menschenfreundlichen, aufgeklärten, liberalen Pädagogik erst gegen den Widerstand der christlichen Religion erkämpft werden. Zuvor wurden Generationen von Christen zu bedingungslosem, blindem Gehorsam gegenüber der vermeintlich höchsten Autorität (Gott) und den jeweils herrschenden religiösen und weltlichen Stellvertreter erzogen. Stilbildend in diesem Zusammenhang der Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola, der seinen Ordensbrüdern befahl, sich von der göttlichen Vorsehung durch die Ordensoberen so führen zu lassen, „als wären sie ein Leichnam, der sich überall hintragen und auf jede Weise behandeln lässt“. Solch sprichwörtlicher „Kadavergehorsam“ – nicht der „Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant)! – galt über Jahrhunderte hinweg als christliche Tugend. Nicht umsonst landeten die Werke Kants – im Unterschied etwa zu Hitlers „Mein Kampf“ – auf dem Index der für katholische Christen verbotenen Schriften.

Im Zuge der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung der 50er, 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die traditionelle, christlich-autoritäre „Zucht- und Ordnung-Pädagogik“ zwar zunehmend zurückgedrängt, doch diese Liberalisierungswelle erreichte tragischerweise längst nicht alle Kinder und Jugendlichen. Hunderttausende von Heimkindern, die das Pech hatten, in einem christlichen Erziehungsheim oder in einem christlichen Internat zu landen, mussten weiterhin "den besonderen Segen" christlicher Fürsorge erfahren. Dort gab es nicht nur in Einzelfällen für die Übertretung rigider lebensfeindlicher Moralvorstellungen „Schläge im Namen des Herrn“. Die „barmherzigen“ Brüder und Schwestern sorgten vielmehr dafür, dass die Heimkinder über Jahre hinweg systematisch ausgebeutet, gedemütigt, weggesperrt, seelisch wie körperlich missbraucht wurden – das „vielleicht größte Unrecht, das jungen Menschen in der Bundesrepublik angetan wurde“, wie der Spiegel-Autor Peter Wensierski in seiner unlängst erschienenen, schockierenden Dokumentation über die „verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ formulierte.

Wohlgemerkt: Diese verheerenden Erziehungsverbrechen, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit an hilflosen Kindern und Jugendlichen im Namen des Christentums begangen wurden (und zum Teil auch heute noch begangen werden!), sind keineswegs bloß auf individuelle Fehlleistungen der jeweiligen Erzieher zurückzuführen, sie sind vielmehr Ausdruck eines authentischen, d.h. aufklärerisch ungezähmten christlichen Glaubens, der in seiner pädagogischen Auslegung durch die „heilige Schrift“ bestens begründet ist. Wer dies ernsthaft bestreiten mag, dokumentiert damit nur, dass er die Bibel – abgesehen von ein paar handverlesenen Passagen der Bergpredigt – nicht gründlich genug gelesen hat. Johann Hinrich Wichern, der viel gepriesene Begründer der evangelischen „Rettungshäuser“, hatte völlig Recht, als er zur Legitimation seiner harten, Körper und Seele beschädigenden Züchtigungsmaßnahmen darauf hinwies, dass die Strafe „so wesentlich in die christliche Erziehung hinein“ gehöre, „als der Unterschied zwischen gut und böse vorhanden ist und Strafe und Lohn wesentliche Handlungen und Offenbarungen der göttlichen Gerechtigkeit sind“.

Angesichts des unermesslichen Leids, das die autoritäre „schwarze Pädagogik“ des Christentums ganzen Generationen von Kindern zufügte, kann man in der Entscheidung der deutschen Familienministerin, ihr „Bündnis für Erziehung“ ausgerechnet mit Vertretern der beiden Großkirchen aus der Taufe zu heben, kaum etwas anderes sehen als eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer. Dass die evangelische Landesbischöfin (mit Sicherheit) und der katholische Kardinal (mit einiger Wahrscheinlichkeit) aufgeklärt genug sind, um eine Neuauflage der „schwarzen Pädagogik“ nicht gutheißen zu können, ändert hieran nichts. Solange die von ihnen repräsentierten Institutionen sich nicht bei den heute lebenden Opfern ihrer Pädagogik entschuldigt und entsprechende finanzielle Entschädigungen gezahlt haben, solange sie sich nicht in allerdeutlichster Weise von den menschenverachtenden pädagogischen Ratschlägen ihrer „Heiligen Schrift“ distanzieren, unterlaufen sie die Grundvoraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sie legitimerweise als gleichberechtigte (geschweige denn: als tonangebende) Partner des Staates in Erziehungsfragen auftreten können.

Um im 21. Jahrhundert anzukommen, müssen die christlichen Kirchen allerdings nicht nur der Gewalttätigkeit und der bedingungslosen Autoritätsfixierung ihres Glaubens eine klare Absage erteilen, die aufklärerische Entzauberung der Religionspädagogik muss einige Schritte weiter gehen. So haben Traumaforscher längst erkannt, welche emotionalen Verunsicherungen selbst durch eine freundliche, behutsam erscheinende Vermittlung authentischer christlicher Glaubensinhalte ausgelöst werden können. Man stelle sich nur vor, wie ein sensibles, intelligentes Kind emotional darauf reagieren muss, wenn es erstmals zuhause, im Kindergarten oder in der Grundschule hört, dass der „liebe Gott“ mit bewusstem Vorsatz (!) nahezu alle Menschen und Tiere im Zuge der Sintflut ertrinken ließ oder dass er seinen eigenen Sohn „für unsere Sünden“ blutig am Kreuze hinrichten ließ. Und wie soll dieses sensible Kind, um alles in der Welt, mit der Information umgehen, dass seine Eltern Woche für Woche „den Leib“ dieses erbärmlich Abgeschlachteten verspeisen, um sich auf diese Weise mit jenem zu „vereinigen“? Es zeigt, wie sehr wir uns bereits an diese blutrünstigen Glaubensabsurditäten gewöhnt haben, dass wir diesen „heiligen Akt“, den Sigmund Freud zu Recht als eine Variante des archaischen „rituellen Kannibalismus“ beschrieb, gar nicht mehr als den Skandal registrieren, den er eigentlich verkörpert. Es ist bei genauerer Betrachtung eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen, dass große Teile der Bevölkerung, inklusive der Familienministerin, es im 21 Jahrhundert (!) als eine pädagogisch unverzichtbare Angelegenheit verstehen, unmündige Kinder im Rahmen des „Kommunionsunterrichts“ in einen solchen „rituellen Kannibalismus“ hinein zu sozialisieren!

Gewiss: Der überwiegende Teil der Eltern und selbst der Erzieherinnen und Erzieher in kirchlichen Erziehungseinrichtungen nehmen das „Wunder des Abendmahls“ und andere zentrale Glaubenssätze des Christentums kaum noch Ernst. Meist wissen sie nicht einmal, was sie „als gute Christen“ eigentlich glauben müssten. Doch eben damit können die Familienministerin und deren christliche Mitstreiter kaum zufrieden sein. Denn welchen pädagogischen Sinn sollte schon die von der Ministerin so heftig geforderte Vermittlung christlicher Rituale haben, wenn diese inhaltlich völlig ausgehöhlt sind, also für die Menschen keinerlei existentielle Bedeutung mehr haben?! Die Initiative der Familienministerin kann nur dahin gehend interpretiert werden, dass den christlichen Ritualen wieder ihre ursprünglichen Sinngehalte eingehaucht werden sollen. Dies jedoch kann nur auf Kosten jener emotionalen Verunsicherung bzw. Verrohung geschehen, die mit einer frühzeitigen Vermittlung authentischer christlicher Glaubensvorstellungen beinahe zwangsläufig einhergehen muss.

Neben dieser Gefahr der emotionalen Verrohung muss man im Rahmen einer kritischen Überprüfung der christlichen Erziehung noch ein zweites Problem herausstellen, nämlich die Gefahr, dass eine frühe Konfrontation mit obskuranten Glaubenssätzen schwerwiegende Konsequenzen für die intellektuelle Entwicklung eines Kindes hervorrufen kann. Auch auf diesen Tatbestand hat bereits Sigmund Freud in aller Deutlichkeit hingewiesen. Wer schon in seiner Kindheit die Absurditäten der religiösen Lehren geschluckt habe, meinte Freud, über dessen spätere „Denkschwäche“ brauche man sich nicht arg wundern. Vielleicht mag dies die gedanklichen Entgleisungen der deutschen Familienministerin erklären bzw. entschuldigen. Gutheißen kann man sie deshalb allerdings noch lange nicht.


Die Sackgasse der interreligiösen Erziehung – Warum ein zeitgemäßes pädagogische Leitbild notwendigerweise säkular begründet sein muss

Auf die vielfach geäußerte Kritik, von der Leyen privilegiere die christlichen Großkirchen, entgegnete die Familienministerin, im weiteren Prozess seien natürlich „auch andere religiöse Gruppen herzlich eingeladen, sich in das neue Bündnis einzubringen“. Wollen wir einmal unterstellen, dass die Ministerin diese Einladung Ernst meinte, so wird dadurch das zugrunde liegende Problem jedoch keineswegs gelöst, vielmehr verschärft es sich. Denn erstens sind die Pädagogiken der anderen Glaubensgemeinschaften nun keineswegs progressiver als die kirchlichen (die ja in Deutschland immerhin einigermaßen aufklärerisch gezähmt sind) und zweitens führt die Übertragung ethischer und pädagogischer Aufgaben an Religionsgemeinschaften zu einer höchst bedenklichen religiösen Gettoisierung der Gesellschaft.

Ethische Werte und darauf basierende pädagogische Konzepte müssen in einer entwickelten modernen Gesellschaft notwendigerweise auf säkularem Fundament fußen, nicht nur weil sie nur auf solch säkularem Wege solide begründet werden können, sondern weil dies auch für ihre Durchsetzung in pluralen Gesellschaften von entscheidender Bedeutung ist. Dies haben mittlerweile auch einige maßgebliche Verantwortliche der Kirchen erkannt. So erklärte der Kirchenpräsident von Hessen-Nassau, Peter Steinacker, unlängst auf einer Podiumsdiskussion, dass die säkulare Begründung der Menschenrechte deshalb notwendig sei, damit alle Menschen auf sie ansprechbar seien und auf sie verpflichtet werden könnten: „Der Geltungsbereich der Menschenrechte muss den einer Religion überschreiten können, sonst wären sie nur für die Anhänger dieser Religion verbindlich.“

Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland mittlerweile die Konfessionslosen die größte weltanschauliche Gruppe sind (es gibt hierzulande mehr Konfessionslose als Katholiken oder Protestanten!) wäre eine nicht-säkulare Fundierung von Ethik, Bildung und Erziehung ohnehin absurd. Hält der gesellschaftliche Trend an, wird spätestens im Jahr 2020 die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nominell keiner religiösen Gruppierung mehr angehören. Schon jetzt gehen nach einer Emnid-Studie aus dem Jahr 2005 nur noch 37 Prozent der Deutschen davon aus, dass Religion notwendig sei, um unterscheiden zu können, was richtig und was falsch ist. Vor dem Hintergrund dieser statistischen Belege, die mühelos erweitert werden könnten, sollte sich die Familienministerin fragen, was sie eigentlich mit einer religiösen Fundierung ihres „Bündnis für Erziehung“ erreichen möchte. Die real existierenden Menschen hierzulande wird sie damit kaum erreichen können und für eine religiöse Umerziehung der Massen ist es wahrscheinlich zu spät.

Man muss die religiös inspirierte Erziehungs-Initiative der Familienministerin wohl als Ausdruck eines nicht gerade untypischen Krisenverarbeitungsreflexes des politischen Establishments begreifen. Bekanntlich neigen manche Politiker dazu, auf gesellschaftliche Krisen mit verzweifelten Versuchen einer pädagogischen Mobilisierung religiöser Rudimente zu reagieren. Nach diesem durchsichtigen Strickmuster verfährt seit Jahren nicht nur der amerikanische Präsident George W. Bush, der mit religiösen Erbauungsinitiativen von der katastrophalen innenpolitischen Lage der USA ablenken will, sondern auch sein einstiger Todfeind Saddam Hussein. Als dieser merkte, dass die politische und ökonomische Lage im Irak immer schwieriger wurde, dass er den Rückhalt in der Bevölkerung mehr und mehr verlor und diese kaum noch für einen weiteren Krieg zu begeistern war, leitete er sofort „wirksame Gegenmaßnahmen“ ein: Er ließ denn Koran in Millionenauflagen in der Bevölkerung verteilen und erhöhte den staatlichen Religionsunterricht von zwei auf acht Stunden die Woche…


Plädoyer für eine zeitgemäße Bildungs- und Erziehungsoffensive

Unbestritten ist – hier darf man der Familienministerin ausnahmsweise zustimmen –, dass heute eine breite gesellschaftliche Debatte zu den fundamentalen Werten des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft erforderlich ist. In diesem Zusammenhang sollten allerdings die folgenden zehn Aspekte berücksichtigt werden:

1. In der öffentlichen Diskussion müssen notwendigerweise weltliche Kriterien gelten, nämlich die humanistische Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Menschen sowie die aufklärerische Orientierung an den Idealen der intellektuellen Redlichkeit. Wenn Klein-Erna mit Segen des Staates von Vertretern der katholischen Kirche, Klein-Mehmet von Muslimen, Klein-Philipp von Zeugen Jehovas etc. fürs Leben geschult werden, so entsteht darüber keine weltanschauliche Vielfalt, sondern bloß potenzierte Einfalt. Mit der bisher gewählten Strategie, die Vermittlung und Diskussion von Werten und Weltanschauungen ausgerechnet den religiösen Gemeinschaften zu überlassen, hat der Staat den Bock zum Gärtner gemacht. Dass unter dieser Voraussetzung das zarte Pflänzchen einer offenen Gesellschaft nicht gedeihen kann, sollte niemanden verwundern.

2. Ein „Bündnis für Erziehung“ ist nur dann sinnvoll, wenn es eng mit einem breit angelegten „Bündnis für Bildung“ verzahnt ist. Wohlgemerkt: Die gegenwärtige kulturelle Misslage ist keineswegs dadurch geprägt, dass die Menschen nicht zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden wüssten. Im Gegenteil. Der sich zuspitzende Kampf der Kulturen erhält seine Brisanz gerade dadurch, dass hier rigide Moralsysteme, die allesamt nach einem einfachen Schwarz-Weißmuster von „Gut und Böse“ gestrickt sind, unvermittelt aufeinander treffen. Was fehlt, ist das umfassende Wissen um die Lebenslagen, Vorstellungen, Perspektiven der „Anderen“ sowie – vor allem! – eine kritische, faktenbasierte Aufarbeitung der eigenen Denktradition.

3. Wir brauchen auf pädagogischem Terrain weniger den neokonservativ geforderten „Mut zur Erziehung“, sondern eine engagierte, weitreichende Bildungsoffensive, die endlich all das entschieden umsetzt, was an fruchtbaren Erkenntnissen im Bereich der Didaktik, der Lern- und Motivationspsychologie und der modernen Hirnforschung seit geraumer Zeit vorliegt. Klar ist, dass die Orte des Lernens nicht weiter Orte des Vollstopfens mit Inhalten sein dürfen, die den Lernenden existentiell nichts bedeuten. Die bisherige Praxis, Lernende auf das „Erbrechen unverdauter geistiger Nahrung zum jeweiligen Prüfungstermin“ hinzukonditionieren, schafft nur totes Schein-Wissen (im doppelten Sinne des Wortes), das meist schon kurze Zeit nach der finalen Bildungs-Transaktion (dem Austausch von entfremdetem Wissen gegen Zensuren) vergessen ist. Was heute erforderlich ist – vom Kindergarten bis zur Universität – sind „Abenteuerspielplätze des Wissens“, Orte, die die Freude am Lernen wecken, die die Kinder individuell nach ihren jeweils vorhandenen Talenten fördern, die das existentiell Sinnvolle mit dem Sinnlichen verbinden, die die Kreativität, den Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen, wirklich herausfordern. Würden die bahnbrechenden Erkenntnisse beispielsweise der Hirnforschung in entsprechende pädagogische Konzepte umgesetzt, könnte die intellektuelle und emotionale Entwicklung der Kinder bereits im Kindergarten auf spielerische Weise gefördert werden. Wer seine Empathiefähigkeit von Kindesbeinen auf spielerische Art und Weise trainiert hat, braucht später keine religiösen Umerziehungsprogramme zu den angeblich so bedeutsamen „guten alten Werten“ (wann waren diese denn für wen „gut“?!), damit er sozial verantwortlich handeln kann. Dies wären Projekte, die unsere Gesellschaft wirklich voranbringen würden. Auf die Inanspruchnahme archaischer Mythen können wir in diesem Zusammenhang getrost verzichten.

4. Eine zeitgemäße pädagogische Initiative müsste in ethischer Hinsicht auf die Vermittlung von „Fairnesskriterien“ sowie in intellektueller Hinsicht auf die Vermittlung kritischer Mündigkeit abzielen. Die bisherige Konzentration der Initiative „Bündnis für Erziehung“ auf bloße „Sekundärtugenden“ zeigt, dass sich die vollmundig angekündigte Initiative in pädagogischer Perspektive auf Stammtischniveau bewegt. „Respekt“ etwa muss man autoritär erzogenen türkischen Jugendlichen nun ganz gewiss nicht beibringen. Es sind gerade solche „Tugenden“ wie „Gehorsam“, „Ehre“ und „Respekt“ die manche Migrantenkinder dazu bringen, sich auf „Zwangsehen“ und „Blutfehden“ einzulassen oder gar „Ehrenmorde“ zu begehen. „Respekt“ und „Toleranz“ sind solange hohle Begriffe, solange nicht angegeben wird, was aus welchem Grund denn nun zu respektieren oder tolerieren ist und was eben nicht (beispielsweise „Ehrenmorde“). Dies verlangt umfassende Bildung, kritisch reflektiertes Wissen, eine Beschäftigung mit den realen Tatsachen und eine konsequente Aufhebung ideologischer Denkmuster – kurzum all das, was die Familienministerin selbst in ihren Stellungnahmen vermissen ließ.

5. „Weltanschaulich neutral“ kann und darf sich der Staat nur dort verhalten, wo weder die humanistischen, auf den Menschenrechten beruhenden ethischen Prinzipien des Grundgesetzes noch die Seriosität des Bildungsauftrags (Stichwort: Kreationismus) auf dem Spiel stehen. Um überhaupt in den Genuss staatlicher Förderung kommen zu können, müssten die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften – vor allem wenn sie im pädagogischen Bereich tätig sind – zunächst ihre „Hausaufgaben“ erledigen, d.h. aus ihren Weltbildern all jene Elemente entfernen, die entweder mit den Kriterien einer humanen Ethik oder aber mit hinreichend gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen kollidieren.

6. Eine solche kritische Aufarbeitung des eigenen Denkens und der eigenen Geschichte muss im Falle der Kirchen angesichts der dokumentierten Menschenrechtsverletzungen in christlichen Erziehungsanstalten nicht nur zu einer öffentlichen Entschuldigung gegenüber den Opfern christlicher Heimerziehung führen. Um in einem (Werte- !) „Bündnis für Erziehung“ als gleichberechtigte Partner teilnehmen zu können, ist es unabdingbar, dass sich die Kirchen ihrer ethischen Verantwortung stellen und die christlich betreuten „Heiminsassen“ für das ihnen zugefügte Leid angemessen entschädigen. Legt man in diesem Zusammenhang den Maßstab Irlands zugrunde, so müsste von den Kirchen für den noch zu bildenden „Deutschen Entschädigungsfonds für Heimbewohner“ ein Beitrag in zweifacher Milliardenhöhe aufgebracht werden. Anders als in Irland, wo der Staat die verhältnismäßig arme Kirche unterstützte, kann und sollte dieser Betrag hierzulande von den direkt Verantwortlichen, den beiden christlichen Großkirchen, alleine aufgebracht werden. Immerhin haben diese – nicht zuletzt aufgrund staatlicher Privilegierung – mittlerweile ein kapitalisierbares Vermögen von jeweils mehreren hundert Milliarden Euro zusammengerafft.

7. Wenn die evangelische Landesbischöfin Käßmann auf der Pressekonferenz zum Start der Initiative „Bündnis für Erziehung“ formuliert, „wo evangelisch drauf steht, sollte auch evangelisch drin sein“, so ist dem nichts entgegenzusetzen – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Institutionen, die unter evangelischer Flagge segeln, auch tatsächlich evangelisch finanziert werden. In Wirklichkeit aber wird zur Zeit keine der evangelisch oder katholisch etikettierten Sozial- oder Bildungseinrichtungen von diesen auch nur maßgeblich finanziell getragen. Während die Krankenhäuser, Altenheime, Sozialstationen etc. zu hundert Prozent durch Staat und Gesellschaft finanziert werden, tragen die Kirchen für Kindergärten oder Kindertagesstätten nur einen kleinen (und dank ihres Verhandlungsgeschicks immer kleiner werdenden, mancherorts bereits völlig verschwundenen) Anteil an der Finanzierung mit. Die unkritische und über weite Strecken verfassungswidrige Subventionierung der Kirchen incl. ihrer „Werke“, die den Staat insgesamt mehr kostet, als sie einbringt, muss ein Ende haben. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Kirchenprivilegien in der Regel auf Verträge aus vor- bzw. undemokratischen Zeiten zurückgehen. Die katholische Kirche etwa sicherte sich einen Teil ihrer Privilegien im „Dritten Reich“, als sie mit Hitler das sog. „Reichskonkordat“ abschloss und diesem im Gegenzug über die katholische Zentrumspartei die notwendigen Stimmen zur Durchsetzung des sog. „Ermächtigungsgesetzes“, der rechtlichen Legitimation der Nazidiktatur, besorgte.

8. Die konsequente kritische Infragestellung der eigenen Denkposition, die als unbedingte Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilnahme an einem „Bündnis für Erziehung und Bildung“ verstanden werden muss, muss selbstverständlich für alle Weltanschauungsgemeinschaften gelten – keineswegs nur für jene, die sich selbst als „religiös“ definieren. Auch die „aufklärerischen Alternativen zur Religion“ können sich schnell zu „Ersatzreligionen“ entwickeln, die dieselben dogmatischen Eigenschaften besitzen, die wir an den bestehenden Offenbarungsreligionen zu Recht kritisieren. (Die Geschichte des Marxismus mag in diesem Zusammenhang als warnendes Beispiel gelten!) Als wirksames Gegengift gegen eine solche Ideologisierung der Aufklärung hilft allein ein konsequenter Kritizismus. Nur durch das stete Anwenden des „Prinzips der kritischen Prüfung“ werden wir in die Lage versetzt, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen. Diese kritische Grundhaltung gilt es allen jungen Menschen zu vermitteln. Dies verlangt aber wiederum, dass die Erzieher, Lehrer, Eltern etc. selbst in der Lage sind, den eigenen Verstand auf kritische Weise zu gebrauchen. Das allerdings entspricht kaum der Wirklichkeit. Damit zeigt sich, dass ein echtes, um Erfolg bemühtes „Bündnis für Bildung und Erziehung“ nicht nur Kinder und Jugendliche erreichen, sondern auch die Erwachsenen als Klientel mit einbeziehen muss.

9. In den politischen Auseinandersetzungen unserer Tage darf die zahlenmäßig stärkste gesellschaftliche Gruppe, die Konfessionslosen, die bei Beibehaltung des seit Jahren stabilen Trends der Entkirchlichung in absehbarer Zeit die Mehrheit der deutschen Bevölkerung stellen werden, nicht mehr übergangen werden, wie dies bis heute noch üblich ist. Das Vorurteil, diese Gruppe sei in sich viel zu heterogen, um in der politischen Debatte berücksichtigt zu werden, ist mittlerweile empirisch hinreichend entkräftet. In Wirklichkeit ist diese Gruppe der Konfessionslosen in allen wichtigen weltanschaulichen Items in sich homogener als die Gruppe der evangelischen oder die Gruppe der katholischen Kirchenmitglieder. Mehr noch: Betrachtet man die Gesamtbevölkerung unabhängig von nominellen Konfessionszugehörigkeiten, so zeigt sich, dass in Deutschland bereits heute eine stabile Mehrheit mit humanistisch-aufklärerischem Profil existiert. Diese Mehrheit vertritt in wichtigen ethischen Fragen weit progressivere Einstellungen als die von kirchlichen Einflussnahmen immer noch allzu stark dominierte Politik. Die sich hierdurch bietenden Chancen zum Ausbau einer freieren, solidarischeren Gesellschaft sollten konsequent genutzt werden.

10. Es sollte unbedingt verhindert werden, dass gesellschaftliche Krisenphänomene, die nicht zuletzt auf ökonomischen Fehlentwicklungen beruhen, mithilfe religiöser Indoktrinationsversuche kaschiert werden. Diese Strategie hat noch nie zu einer Verbesserung, sondern stets zu einer Verschlechterung der menschlichen Lebensverhältnisse geführt. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass das Projekt der Aufklärung weder vollendet ist noch dass die kulturellen Errungenschaften der Moderne, die uns in unseren Breitengraden allzu selbstverständlich geworden sind, nachhaltig gesichert sind. In dieser Situation sind wir alle aufgerufen, endlich Klartext zu reden, Irrtümer als Irrtümer und ethische Verfehlungen als ethische Verfehlungen zu kennzeichnen – auch wenn dies in den intellektuell weichgespülten, selten an die Wurzeln der Probleme vorstoßenden Debatten unserer Zeit als „unschicklich“ erscheinen mag. Halten wir fest: Wer aus Opportunitätsgründen Unsinn zu Sinn, Leid zur Freude und Verbrechen zu Heldentaten verklärt, der liefert damit weder Grundlagen für eine zeitgemäße Erziehungs- und Bildungsreform noch für eine Weiterentwicklung des Projekts einer offenen Gesellschaft. Wir sollten uns davor hüten, die Errungenschaften der Moderne durch Bequemlichkeit, Feigheit oder blankem Opportunismus leichtfertig zu verspielen…


Hinweis:
Auszüge aus diesem Text wurden für die „Online-Petition der Giordano Bruno Stiftung gegen die religiöse Fundierung von Bildung und Erziehung“ verwendet.

Über den Verfasser:
Michael Schmidt-Salomon, geb. 1967, ist promovierter Philosoph, diplomierter Erziehungswissenschaftler und Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung. Die Stiftung, der zahlreiche renommierte Wissenschaftler, Philosophen und Künstler angehören, hat sich zum Ziel gesetzt, säkulare humanistische Alternativen zu religiösen Weltdeutungsmustern zu entwickeln. Im Auftrag der Stiftung schrieb Schmidt-Salomon das Buch „Manifest des evolutionären Humanismus“ (Alibri Verlag 2005 und 2006, 2. ergänzte Auflage), das u.a. die Unvereinbarkeit von Wissenschaft und traditioneller Religion sowie die Notwendigkeit einer säkular gefassten Ethik philosophisch begründet. Informationen über den Verfasser gibt es im Internet unter: www.schmidt-salomon.de bzw. unter www.giordano-bruno-stiftung.de.