Ethik
versus Moral
Ethische
Werte sind uns nicht vorgegeben – weder von „Gott“
noch von „der Natur“. Es wäre ein Irrtum, würde
man annehmen, dass evolutionäre Humanisten aufgrund ihres naturalistischen
Weltbildes dazu tendieren würden, ihre Werte aus der Natur zu
schöpfen. Im Gegenteil! Gerade diejenigen, die sich um eine naturalistischere
Sicht der Dinge bemühen, gehören zu den schärfsten
Kritikern der sog. „naturrechtlichen Konzepte“.
Naturrechtsethiker gehen davon aus, dass die Natur nicht nur von kausalen,
sondern auch von finalen Gesetzmäßigkeiten („Zweck
der Schöpfung“) bestimmt wird, woraus sie folgern, dass
sich auch der Mensch in seinem Verhalten diesen „natürlichen
Zielen“ unterwerfen müsse. Diese Denkfigur tritt uns beispielsweise
in der katholischen Sexualmoral entgegen, die Homosexualität
als angeblich „unnatürliches“ Verhalten verurteilt.
Doch dieses Argument ist nicht nur logisch fehlerhaft, sondern
auch empirisch hinreichend widerlegt. Homosexualität
nämlich ist entgegen aller theologischen Annahmen in der Natur
weit verbreitet. Sie wurde mittlerweile nicht nur bei Würmern,
Eidechsen, Möwen, Meerschweinchen, Hasen, Schafen oder Delphinen
beobachtet, sondern auch bei unseren nächsten tierischen Verwandten,
den Primaten. Makaken, Languren, Orang-Utans, Schimpansen oder Bonobos
– sie alle tun es hin und wieder gerne auch gleichgeschlechtlich.
Heißt das nun, dass wir das naturrechtliche Argument einfach
umdrehen können, d. h. homosexuelles Verhalten deshalb für
legitim erklären können, weil es „natürlich“
sei? Selbstverständlich nicht! Ob ein Verhalten „natürlich“
ist oder nicht, sagt rein gar nichts über seine ethische Legitimität
aus. Wie wir (...) mit Max Weber festgestellt haben, lässt sich
aus dem, was ist, nicht unmittelbar ableiten, was sein
sollte. Zwischen Seins-Sätzen (Beschreibungen der
Wirklichkeit) und Sollens-Sätzen (ethischen Vorschriften)
herrscht eine unüberbrückbare Kluft. Wer diese Kluft ignoriert,
indem er eine natürliche Erklärung für ein bestimmtes
Verhalten als ethische Rechtfertigung desselben begreift, begeht einen
schwerwiegenden logischen Fehler, den sog. „naturalistischen
Fehlschluss“.
Anders als der Name es vielleicht vermuten lassen würde, sind
gerade Naturalisten gegen diesen Fehlschluss in besonderer Weise gefeit.
Warum? Weil sie aufgrund ihrer Kenntnis der Natur wissen, welche
Katastrophen wir heraufbeschwören würden, wenn wir natürliche
Verhaltensweisen unreflektiert zu ethischen Prinzipien erheben würden.
Betrachten wir zur Verdeutlichung das Beispiel des Infantizids
(Kindstötung): Bei den Berggorillas fallen mehr als ein Drittel
(!) des Nachwuchses bis zum Alter von 3 Jahren Kindstötungen
zum Opfer. Grund: Durch den Infantizid steigen die Fortpflanzungschancen
des tötenden Männchens. Dieses für unsere Vorstellungen
zutiefst unethische Verhalten findet sich nicht nur bei Gorillas,
sondern auch bei solch unterschiedlichen Tierarten wie Dungkäfern,
Fischen, Amphibien, Mäusen, Löwen, Kamelen oder Pferden.
Und es sind nicht nur die ohnehin als aggressiv verschrienen Männchen,
die sich über Kindstötungen Vorteile im evolutionären
Wettstreit um das genetische Überleben verschaffen: Weibliche
Erdhörnchen, Mungos, Dingos, Wildhunde oder Krallenaffen beseitigen
auf ähnliche Weise „unliebsame Konkurrenz eigener Kinder
um Nahrung, Ruheplätze und Fortpflanzungspartner“.
So „natürlich“ Infantizid also ist (auch Homo sapiens
ist dagegen alles andere als immun, nicht ohne Grund ist die literarische
Figur der „bösen Stiefmutter“ so weit verbreitet!),
kein vernünftiger Mensch käme auf den Gedanken, ihn deshalb
ethisch legitimieren zu wollen. Dies gilt in gleichem Maße für
die ebenfalls „natürlichen“ Verhaltensweisen Vergewaltigung,
Raub, Erpressung oder Tötung. Das Naturrechtsprinzip hilft uns
nicht weiter, wenn wir auf der Suche nach vernünftigen ethischen
Regeln sind. Es ist allenfalls noch jenen Ideologen von Nutzen, die
unter allen Umständen verhindern wollen, dass ihre Dogmen einer
rationalen Überprüfung unterzogen werden. Völlig zu
Recht stellte Norbert Hoerster fest, „dass dem Naturrechtler
sein Ansatz lediglich als Mittel dient, um gewissen Moralnormen, die
er […] nicht hinterfragen möchte, den Anschein einer objektiven
Legitimität zu geben“.
Damit stellt sich die Frage: Wenn wir im Unterschied zu Naturrechtlern
davon ausgehen müssen, dass wir ethische Grundregeln nicht einfach
in der Natur vorfinden können, sondern dass wir diese
vielmehr selbst erfinden müssen, ist daraus nicht zu
folgern, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse keinerlei Relevanz
haben für die Entwicklung einer zukunftsfähigen Ethik?
Weit gefehlt! Naturwissenschaftliche Erkenntnisse bleiben für
die ethische Diskussion weiterhin hoch relevant, allerdings steht
im Mittelpunkt des Interesses nicht mehr die Frage, ob wir ein bestimmtes,
ethisch gefordertes Verhalten zeigen dürfen bzw. sollten,
sondern vielmehr die Frage, ob wir ein bestimmtes Verhalten überhaupt
zeigen können bzw. ob wir es – trotz aller moralischen
Verbote! – mit größter Wahrscheinlichkeit am Ende
nicht doch zeigen werden.
(...)
Ethik ist der Versuch, die unter Menschen unweigerlich auftretenden
Interessenkonflikte so zu lösen, dass alle Betroffenen diese
Lösung als möglichst fair erachten. Dies verlangt ein
grundlegendes Verständnis der Bedürfnislagen, die einem
Konflikt zugrunde liegen, denn nur auf diese Weise lassen sich widerstreitende
Interessen fair gewichten. Da Religionen darauf angelegt sind, real
existierende Bedürfnisse zu ignorieren (oder gar zu verteufeln),
statt diese zum zentralen Maßstab der Auseinandersetzung um
ein verträgliches Miteinander zu machen, müssen sie notwendigerweise
auf ethischem Gebiet versagen. Idealtypischerweise lassen sich ethisches
und religiöses Denken kaum miteinander vereinbaren. (Um Missverständnissen
vorzubeugen: Das bedeutet keineswegs, dass religiöse Menschen
per se nicht ethisch denken könnten, doch in dem Moment, in dem
sie ethisch argumentieren, verlassen sie das intellektuelle Hoheitsgebiet
ihrer Religion.)
Die Religionen kompensieren ihre Defizite auf dem Gebiet der Ethik,
indem sie an die Stelle ethischer Interessenabwägungen moralische
Gebots- und Verbotskataloge setzen. Leider wird die Differenz zwischen
diesen beiden Verfahrensweisen leicht übersehen, da im alltäglichen
(ja selbst im philosophischen!) Sprachverständnis die Begriffe
Ethik und Moral meist als Synonyme gebraucht werden. Bei genauerer
Betrachtung zeigt sich aber, dass es sich bei Ethik und Moral um diametral
entgegengesetzte Ansätze zur Begründung von Verhaltensnormen
handelt. Schärfen wir also unser Begriffsverständnis:
•
In der Moral geht es um die subjektive Wertigkeit von Menschen vor
dem Hintergrund vermeintlich vorgegebener metaphysischer Beurteilungskriterien
(gut und böse), in der Ethik hingegen um die objektive Angemessenheit
von Handlungen anhand intersubjektiv festgelegter und immer wieder
neu festzulegender Spielregeln (fair oder unfair).
•
Moralische Argumentation zielt auf die Frage der persönlichen
Schuldfähigkeit ab und baut daher notwendigerweise auf dem Konzept
der Willensfreiheit auf, d. h. der Unterstellung, dass eine Person
sich unter exakt denselben Bedingungen anders hätte entscheiden
können, als sie sich de facto entschieden hat. Ethische Argumentationsweisen
können dagegen auf eine derart antinaturalistische Denkvoraussetzung
verzichten, weil ein Verbrechen auch dann noch ein Verbrechen ist,
wenn der Täter gar nicht die Möglichkeit hatte, anders zu
handeln. Eine (naturalistische) ethische Argumentation fragt deshalb
prinzipiell nur nach der objektiven Verantwortbarkeit potentieller
oder bereits realisierter Taten, nicht nach der subjektiven Verantwortung
(Willensfreiheit) der Täter. Wir müssen keineswegs in antinaturalistischer
Weise unterstellen, dass Hitler, Stalin, Konstantin der Große
oder Papst Innozenz III. sich aus „freien Stücken“
zu ihren Untaten entschlossen haben, um diese ethisch verurteilen
zu können.
•
Ein weiterer fundamentaler Unterschied von Ethik und Moral betrifft
die jeweiligen Anwendungsgebiete. Ethische Argumentation zielt auf
die faire Lösung von Interessenkonflikten zwischen Personen bzw.
zwischen Personen und ihrer nichtpersonalen Umwelt und ist insofern
nur sinnvoll, wenn mindestens zwei Akteure mit widerstrebenden Interessen
vorhanden sind. Daraus folgt, dass man sich selbst gegenüber
sich nicht unethisch verhalten kann. Das Ausleben eigennütziger
Bedürfnisse avanciert nur dann zu einem Problem der Ethik, wenn
es mit Kosten auf der Seite anderer Personen (oder der nichtpersonalen
Umwelt) verbunden ist. Demgegenüber behaupten Moralisten jedoch,
dass man sich auch gegen sich selbst „versündigen“
könne, dass bestimmte Verhaltensweisen prinzipiell unmoralisch
seien – selbst, wenn niemand (außer vielleicht man selbst)
Schaden daran nehme. Diese Differenz von ethischer und moralischer
Argumentation hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstbestimmungsrecht
des Menschen. Am deutlichsten zeigt sich dies vielleicht auf dem Gebiet
der Sexualität: Aus ethischer Perspektive (Beurteilungskriterium:
fair / unfair) ist es völlig irrelevant, ob ein Mensch homosexuelle
Partnerschaften pflegt, ob er masturbiert, Oral- oder Analverkehr
praktiziert, aus moralischer Perspektive jedoch (gut / böse)
werden diese Handlungen häufig als „besonders verwerflich“
eingestuft und – sofern Moralisten die erforderliche Macht dazu
haben – auch rigoros unterbunden (nicht ohne Grund sind homosexuelle
Handlungen auch heute noch dort, wo [religiöse] Moralisten uneingeschränkt
das Sagen haben, mit der Todesstrafe belegt).
•
Während die (naturalistische) Ethik die eigennützigen Bedürfnisse
der Menschen unumwunden akzeptiert und nur ihre Realisierungs-Chancen
und -Legitimationen problematisiert, stellen für Moralisten die
menschlichen Bedürfnisse selbst das zentrale Problem dar, das
überwunden werden muss. Um für diesen existentiellen Kampf
gewappnet zu sein, träumen sie sich eine besondere Seelensphäre
herbei, die die Rolle des trotzigen Widerparts zum tierisch-eigennützigen
Organismus spielen soll („Der Geist ist willig, das Fleisch
ist schwach“). Doch der für den Moralismus unverzichtbare
Körper-Geist-Dualismus ist eine empirisch widerlegte Fiktion.
Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass die moralisch intendierte
Eliminierung des Eigennutzes niemals gelingen kann. Mehr noch: Gerade
unter moralistischen Bedingungen neigt der Eigennutz dazu, besonders
niederträchtige und unkontrollierbare, hinter scheinbar „ehrbaren
Motiven“ verdeckte Formen anzunehmen (Kreuzfahrer, die „für
Gott streiten“ – und sich doch nur selbst bereichern,
„unterwürfige Diener des Proletariats“, die sich
wie die schlimmsten Aristokraten an den Früchten der Arbeit anderer
Menschen vergreifen etc.). Naturalistische Ethiker lehnen solche moralistischen
Ablenkungsmanöver ab. Sie orientieren sich stattdessen an der
gut belegten, illusionslosen Formel der Soziobiologie: „Traue
keinem erhabenen Motiv, wenn sich nicht auch ein handfesteres finden
lässt“.
Aus all
diesen Gründen können evolutionäre Humanisten in ihrer
Ethik auf die vermeintlichen Hilfestellungen einer „Moral“
getrost verzichten. Sie haben begriffen, dass es sinnlos ist, den
Eigennutz, das Grundprinzip des Lebens und damit auch die Quelle aller
Kreativität, Freundschaft und Liebe, bekämpfen zu wollen.
Deshalb konzentrieren sie sich auf die gesellschaftlichen Spielregeln,
die jenseits aller biologischen Verhaltenspräferenzen dafür
verantwortlich sind, welche Gestalt der Eigennutz im sozialen Miteinander
annimmt.
Tragischerweise ist es in der bisherigen Geschichte nur unzureichend
gelungen, den Eigennutz in den Dienst der Humanität zu stellen.
Dies zu ändern, ist das erklärte Ziel des evolutionären
Humanismus und auch die größte ethische, ökonomische
und politische Herausforderung unserer Zeit.
Mehr
zu diesem Thema im 13. Kapitel des Manifests: "Der Geist
ist willig, das Fleisch ist schwach"? - Warum eine naturalistische
Ethik auf "Moral" getrost verzichten kann
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